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Meine Oma ist dick, aber schnell. Sie hört kaum, dafür spricht sie umso mehr. Sie ist fast blind, aber niemand kann so genau zwischen den Zeilen lesen wie sie. Oma ist 76 Jahre alt. Sie geht kaum mehr aus dem Haus, aber wenn, dann nur mit Pumps und Lippenstift. Seit Opa vor elf Jahren gestorben ist, lebt sie allein in St. Petersburg. Haustiere braucht sie keine, sagt Oma. Sie habe einen Pelzmantel, der reiche.
Omas Liebe bedarf keiner Küsschen und keiner warmen Worte. Als ich versuche, zur Begrüßung ihren Hundert-Kilo-Körper mit den Armen zu umrunden, sagt sie: "Nun ist Schluss mit den Kalbszärtlichkeiten. Komm an den Tisch." Kaugeräusche sind Omas bevorzugte Liebeserklärungen, der Bauch das wichtigste Liebesorgan. Und da ist kein Platz für Schmetterlinge, sondern für Borschtsch und Koteletts. Ihr Platz.
Gefühle muss man anfassen kann
"Die Liebe kommt und geht, doch essen will man immer", kontert Oma alle meine Nachfragen nach Liebesgeschichten mit einer russischen Weisheit. Erst beim Tee erbarmt sie sich und holt ein Fotoalbum. Auf dem Foto aus dem Jahr 1956 sieht Oma aus wie eine kommunistische Marilyn Monroe mit kräftigen Armen, die streicheln können, aber auch Teig kneten und Kartoffelfelder pflügen. Opa blickt ernst in die Kamera, ein Mann mit zusammengewachsenen Brauen und markanter Nase. Sie lernten sich beim Tanz kennen. Ein halbes Jahr später waren sie verheiratet. War er ein guter Tänzer? "Furchtbar, ganz furchtbar." Fand sie ihn schön? "Er trug ein sauberes Hemd." War er ein guter Mann? "Er war mein Mann", sagt Oma.
Sie gingen zusammen fischen, triezten den Sohn in die Musikschule und schafften es, auf ihrer Datscha hinter dem Polarkreis Erdbeeren anzubauen. Wenn ich frage, ob Opa sie liebte, erzählt sie von Rubin-Ohrringen, die er ihr schenkte. Auf die Frage nach ihren eigenen Gefühlen spricht sie von Torten, die sie ihm buk. Omas Geschichten drehen sich um Objekte, die wohl kaum Stoff für Jahrhundertromane bieten. Pelmeni spielen in ihnen die Hauptrolle, Lachsfische, Pilzkonserven. Von Gefühlen spricht Oma nie. Kalbszärtlichkeiten eben.
Omas früheste Kindheitserinnerung handelt von einer Zuckerrübe, die Soldaten ihr schenkten. Vielleicht ist für so jemanden die Geschichte einer Torte tatsächlich eine Liebesgeschichte. Die heutige Liebe findet Oma zu flüchtig. Wenn ich mit meinem Freund im Chat quatsche und E-Mails an ihn tippe, schaut sie mir interessiert über die Schulter. Dann geht sie in die Küche und grummelt: "Ich lebte im Dorf, dein Vater lebt in der Stadt, und du wirst im Internet leben."
Gefühle, die über elektrische Signale vermittelt werden, kann sie nicht akzeptieren. Gefühle muss man anfassen können: gestärkte Hemden, warme Piroggen, selbstgemachte Marmelade. Omas Liebe ist reichhaltig - auch wenn sie nicht einfach zu verdauen ist: Salo - gehärtetes Tierfett, Igeltorte aus Butterkeksen, Butter und noch mehr Butter, klebrige Süßigkeiten, die ganze Familien zusammenhielten.
Ehe ohne Fragezeichen
War sie glücklich mit Opa? "Wir haben unsere Arbeit gemacht, wir haben einen Sohn großgezogen und zwei Enkeltöchter", sagt sie. "Ich kann mich nicht beschweren." Aber was ist mit Sonnenuntergängen, schmalzigen Liebesbriefen und gewichtigen Gesprächen bis in die Morgenstunden? War Oma so grundzufrieden, dass sie nie über diese elementare Ebene der Zufriedenheit hinausdachte? Oder lege ich gerade mir bekannte Maßstäbe an eine Liebe aus einem anderen Jahrzehnt und Land an?
Wenn man Omas Erzählungen glaubt, war die Ehe damals nicht kompliziert. Ehe, das war nicht Widerspiegelung des einen im anderen. Ehe, das war nicht Arbeit. Die Ehe war. Omas Liebe hatte etwas, womit sich nur die Hälfte der heutigen Liebesbeziehungen in Deutschland rühmen kann: ein lebenslanges Haltbarkeitsdatum.
Wie schafften sie es, über 40 Jahre zusammenzubleiben? "Ganz einfach", sagt Oma. "Wir haben uns nicht scheiden lassen." Sie hat nicht nach einem besseren Leben gesucht, hat nie ein Fragezeichen hinter ihren Ehestatus gesetzt. Man war verheiratet. Punkt. Man versuchte, das Beste daraus zu machen, trotz Krisen und Routine und dickwerdenden Bäuchen.
Und doch wird es mehr gewesen sein, als "sich nicht zu trennen". Opa und Oma hielten immer Händchen, wenn sie auf die Straße gingen. Sie schliefen im selben Bett bis zu Opas letztem Tag. Ihre erste polare Erdbeere, die nicht einfror, hat Oma Opa gegeben, und er gab sie ihr zurück. Es stimmt: Omas Liebesgeschichte dreht sich nicht um durchgeschwitzte Laken und durchgeweinte Kissen. Aber vielleicht ist Liebe tatsächlich eher fünfzehntausend Frühstückseier und hunderttausend Tassen Tee.