Nicht ganz durchsichtig
Liebe Yasmina,
ich halte es für sehr abstrakt, daß das Jugendamt Dein Kind wegen temporärer Unreife oder eventuell vermuteter geistiger Behinderung aus der Familie holt. Das soll nicht heißen, daß ich es nicht für möglich halte.
Hierzu möchte ich kurz die Geschichte meines Pflegebruders umreißen, was den Grund meiner Verwunderung in Deinem Fall darstellt:
Meine Mutter, meine Schwester und ich sind gerade in einen Ort im Hunsrück gezogen von recht weit her. Meine Mutter hatte zwar einen Job in relativem Umkreis, hat ihn dann jedoch leider aus betrieblichen Gründen verloren und meldete sich auf eine Anzeige, in der jemand eine Haushaltshilfe suchte. Dieser Jemand war ein alleinerziehender Vater, der a.) nie da war, desssen Niveau b.) noch unterm Erdkern lag und der c.) selbst weder richtig lesen noch schreiben konnte. Er hat den Jungen stark vernachlässigt, sei es emotional als auch physich sowie schulisch. Der Junge war in der 2. Klasse bereits versetzungsgefährdet, wofür man wohl mehr tun muß, als dafür, versetzt zu werden. Er hatte keine Heizung im Zimmer, war unterernährt und in allen Belangen, was seine Mutter oder Großeltern (väterlicherseits, die 1 Stockwerk tiefer wohnten) betraf, zum Werkzeug seines Vaters gemacht worden. Eines Tages bat dieser Vater meine Mutter, ab und an nach dem Jungen zu sehen, weil er auf eine Entziehungskur mußte. Sie war dort schon lange nicht mehr Haushaltshilfe, sondern kam nur wegen des Jungen.
Als der Vater dann weg war, hat sich der Junge nur noch von Chips und Haferflocken ernährt. Der Vater hat in der ganzen Wohnung die Heizung abgestellt, es war Dezember und der Junge spielte Computer und ging nicht mehr zur Schule. Zwar wohnten die Großeltern im unteren Stockwerk, aber es wurde dem Jungen ja beigebracht, bloß nicht auf sie zu hören.
In Bezug auf die Schule wurde er insofern geprägt, als daß sie der totale Mist wäre und man dort nur zwangsweise seine Zeit absitzen müßte. Daß er diese kindliche und frühkindliche Prägung noch heute in sich trägt, sei hier nur am Rande erwähnt. Er wurde sogar für schlechte Noten gelobt.
Als er schwer krank wurde und seine Großeltern beteuerten, ihn nicht im Griff zu haben, nahm ihn meine Mutter mit nach Hause. Ich sehe ihn noch vor mir in verrotteten, entweder viel zu kleinen oder viel zu großen Klamotten. Er war 8. Wenn er mich umarmte, ging er mir bis zum Oberschenkel. Unterernährt, dünn, ohne selbstbewußtsein.
Eines Tages stand sein Vater vor der Tür. Meine Mutter hat ihn darüber informiert, daß er bei uns wohnt. Seine eigene Mutter wurde zwar auch informiert, hat uns aber nie besucht, ihn nie kontaktiert. Das hat lange gedauert, ehe wir sie dazu bekommen haben, regelmäßigen Kontakt zu ihrem Jungen zu haben. Mittlerweile sieht er sie 1 X pro Woche. Das ist schon viel im Vergleich zu den letzten Jahren.
Zurück zur Situation, als sein Vater vor der Tür stand: Er hat sich in seinem Zimmer versteckt (was im oberen Stock lag) und meiner Mutter die Treppe heruntergeflüstert: "Mach', daß ich hierbleiben kann, bitte gib mich nicht an ihn raus!"
Das befolgte meine Mutter. Wir stellten einen Antrag beim Jugendamt, daß wir seine Pflegefamilie sein durften. Der Vater stimmte zu. Aber trotzdem wurde natürlich geprüft, was ja auch richtig ist. Die Beamte kam zu dem Schluß, daß es dem Jungen bei seinem Vater an nichts fehle, trotzdem die Schule mehrfach gemeldet hatte, daß es ihm nicht gut geht, trotzdem der Vater in Unterhemd und Schlüpfer herumlief, als das Jugendamt kam, die Wohnung total verdreckt war, er sein Gebiß auf dem Tisch zu liegen hatte (mit Anfang 40!). Das Zimmer des Jungen wurde nicht begutachtet. Er führte dort oben quasi ein Eigenleben mit Fernseher, Computer und selbst zu beschaffender Nahrung. Da wurde nicht einmal reingeschaut! Es bestand laut Jugendamt kein Anlaß zur Hilfe. Mir hätte ja auch das Angebot einer Familienhilfe gereicht, aber nichts soll nötig gewesen sein. Der Kleine wäre heute total unterernährt und verblödet wahrscheinlich auf einer Sonderschule gelandet. Aber das Jugendamt sah keinen Anlaß. Auch nicht, weil er vollkommen sich selbst überlassen war. Was letztendlich dazu geführt hat, daß er bei uns bleibt, waren sein eigener Wunsch und der Kampf meiner Mutter, den sie aufnahm.
Deswegen wundert es mich so sehr, daß Dein Kind wegen Unlust auf Schule aus der Familie genommen wird.
Mein Tip: Zeig dem Jugendamt, daß Du wirklich bestrebt bist, daß Dein Kind ordentlich zur Schule geht. Eine geistige Behinderung, wenn sie vermutet wird, kann man auch über Ärzte feststellen, dafür muß kein Kind aus der Familie. Auch nicht, falls dies so sein sollte. Zeig' dem Jugendamt, daß für Dich nur wichtig ist, was für das Kind gut ist. Ziehe vielleicht andere Pflegemütter zu Rate und schildere Deine Lage. Meine Mutter hat auch schon vielen Müttern geholfen. Oft lag es an einem prügelnden Ehemann, von dem sie sich trennen sollten, manchmal auch an Vernachlässigung, weshalb meine Mutter beriet, wie es besser geht. Manche Mütter wissen es einfach nicht besser. Was nicht heißen soll, daß Du Dein Kind vernachlässigst. Vielleicht sprichst Du auch mal das Modell der Familienhilfe an, was bedeutet, daß Dein Kind bei Dir lebt, aber regelmäßig eine Beratungsperson ins Haus kommt. Das wäre doch ein Kompromiß.
Wichtig ist, daß es Deinem Jungen gut geht, nicht, daß Du ihn zurück möchtest.
Viel Erfolg und alles Gute.
LG.
Claudia