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Teil 2: Der gemeinsame Schlaf: Pro und Kontra
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch Kinder verstehen. Born to be wild - wie die Evolution unsere Kinder prägt (Kösel Verlag 2009). Es beschreibt die Entwicklung der Kinder aus dem Blickwinkel der Verhaltensforschung. Mehr dazu: www.kinder-verstehen.de
Gehören Kinder ins eigene Bett oder ins Bett der Eltern? Von den Befürwortern des Alleinschlafens hört man immer wieder vier Argumente:
Die von den Eltern bitter benötigte Privat- oder Paarsphäre sei durch das mitschlafende Kind in Gefahr.
Der Schlaf sei im eigenen Bett erholsamer.
Babys gehörten in ihr eigenes Bett, weil sie sonst nicht selbstständig würden.
Und schließlich: Das Baby könne durch das Mitschlafen sogar gefährdet werden!
Gehen wir die Argumente der Reihe nach durch.
Gefährdet der gemeinsame Schlaf die Elternbeziehung?
In der Tat enthält das gemeinsame Schlafen von Mutter und Kind in einer ganz zentral auf die Zweierbeziehung zugeschnittenen Lebenswelt einiges Dynamit. Denn das Bett ist in unserem Kulturkreis nun einmal auch der Platz an dem Vertraulichkeiten ausgetauscht und die Paarbeziehung in körperlicher und emotionaler Hinsicht gepflegt wird. Schaut man sich in anderen Kulturen um, so ist offensichtlich, dass viele traditionelle Schlafarrangements von Mutter und Kind den Vater ausschließen (der schläft etwa in Westafrika in einer eigenen Hütte). Allerdings ist auch das richtig: Wo ein Wille ist, lässt sich unter heutigen baulichen und schlafmöbeltechnischen Bedingungen meist auch ein Weg finden, um zumindest das Platzproblem befriedigend zu lösen. Inzwischen bietet die Industrie sogar an das Elternbett ankoppelbare Bettchen für das Baby an.
Und was die emotionale Seite angeht: Der Beziehung der Eltern stellen sich nach der Geburt eines Kindes viele Hindernisse entgegen von der Müdigkeit, über die schlichtweg fehlende Kraft bis hin zu den vielen neuen Wirbeln im Gefühlshaushalt der Eltern. Nicht wenige Eltern haben das Gefühl, dass ihre Zweierbeziehung regelrecht aufgebrochen wird und dass sie ein neues Fundament für die Beziehung finden müssen. Ob die Suche gelingt, dürfte nur wenig davon abhängen, ob das Kind nun mit den Eltern im Bett schläft oder nicht. Und auch die nach der Geburt eines Kindes oft beklagten Sex-Flaute liegt in den seltensten Fällen daran, dass das Baby stört als vielmehr an der in den ersten Monaten nach der Geburt zumindest bei der Mutter ganz normalen Lustlosigkeit (wir werden auf das nachgeburtliche Familiendilemma in Kapitel 12 noch einmal zu sprechen kommen).
Welches Arrangement ist besser für den Schlaf?
Wie wir weiter oben gesehen haben, leidet der Schlaf durch das enge Zusammenschlafen nicht. Im Gegenteil: Der Schlaf des Babys als auch der seiner Mutter ist beim gemeinsamen Schlafen oft besser. Auch bewerten Mütter, die ihre Babys bei sich im Bett schlafen lassen, ihren eigenen Schlaf positiver als Mütter, deren Babys in einem separaten Zimmer schlafen. Heißt das, dass jede Mutter besser fährt? Durchaus nicht. Diese Ergebnisse geben nur die Situation bei freiwilligen Schlafpartnern wider, sie gelten also für diejenigen Mütter, die sich bewusst für das Schlafen mit ihrem Kind entschieden haben. Eltern, die ihre Kinder ins Elternbett aufnehmen, weil nichts anderes mehr hilft, fühlen sich dagegen in ihrem Schlaf oft deutlich gestört. Letzteres scheint ein zunehmendes Problem zu sein.
Leider ist die Stimme des Vaters in den wissenschaftlichen Studien zum gemeinsamen Schlafen im Elternbett nur selten zu hören. Zu vermuten ist, dass für seine Schlafqualität Ähnliches gilt wie für die Mutter: Sieht er das Arrangement positiv, wird sein Schlaf wenig leiden, lehnt er es ab, so sind Stress und Konflikte vorprogrammiert.
Der gemeinsame Schlaf als falsches Signal in der Erziehung?
Nähe ist in den westlichen Industriekulturen eine zweideutige Angelegenheit einerseits ist es das Ideal einer guten Beziehung in der Partnerschaft und in der Familie schlechthin. Andererseits wird zu viel Nähe als psychologisch ungesund angesehen, als Selbstaufgabe oder als Verlust von Eigenständigkeit. Wir wollen uns in der partnerschaftlichen Beziehung möglichst nahe sein, dabei aber gleichzeitig unseren eigenen Raum nicht verlieren. Und das gilt auch für die Kinder: Wir wollen ihnen so viel Wärme, emotionale Unterstützung und Nähe geben wie nur möglich wir halten es aber gleichzeitig für wichtig, ihre Selbstständigkeit zu fördern und sie nicht zu verwöhnen wenig überraschend, dass in diesem Zielkonflikt das gemeinsame Schlafen von Mutter und Kind ganz im Mittelpunkt steht.
Zu den Einflüssen des Schlafarrangements auf die emotionale Entwicklung des Kindes liegt wenig Gesichertes vor. Schließlich gehen gemeinsam schlafende und getrennt schlafende Mutter-Kind-Paare auch tagsüber unterschiedlich miteinander um, und das macht die Erforschung dieses Themas recht schwierig. Die Frage etwa, wie sich das Schlafen im Nahbereich der Mutter auf die Bindung zwischen Mutter und Kind auswirkt, ist im Grunde unbeantwortet. Bekannt ist lediglich aus Studien an Kindern, die in verschiedenen israelischen Kibuzzen aufwuchsen, dass sich eine sichere Bindung häufiger bei denjenigen Kindern einstellte, die bei ihren Eltern schliefen ein Unterschied, der sich selbst noch bei Jugendlichen nachweisen ließ.
Schon ergiebiger ist eine andere Frage: Sind Kinder, die bei ihren Eltern schlafen, später im Leben weniger selbstständig? Aus evolutionärer Sicht ist die Antwort eindeutig: Dass möglichst frühes selbstständiges Schlafen ein wichtiger oder notwendiger Schritt für spätere Selbstständigkeit wäre, ist nicht plausibel (vgl. Kapitel 5&). Auch die Forschung sieht keinen Hinweis, dass die Fähigkeit allein einzuschlafen einem Kind zu mehr sozialer Kompetenz oder psychologischer Unabhängigkeit verhilft. So zeigt eine aktuelle Studie an der Universität von Kalifornien, dass das Schlafen bei der Mutter weder die Fähigkeit, während des Tages allein zu sein, noch die Offenheit gegenüber neuen Situationen vermindert. In dieser Studie schnitten die bei der Mutter schlafenden Kinder in beiden Bereichen sogar besser ab als die getrennt schlafenden Kinder.
Schon in früheren Studien war festgestellt worden, dass die geplant ins gemeinsame Bett aufgenommenen Kinder später die selbstbewusstesten Vorschulkinder sind und auch als Studenten ein höheres Selbstwertgefühl haben. Natürlich können solche Studien einen ursächlichen Zusammenhang nicht beweisen, aber sie unterstützen ein einleuchtendes Argument: Selbstständige Schläfer sind selbstständige Schläfer und dadurch nicht unbedingt selbstständige Menschen.
Und selbst was den Schlaf angeht, scheint das Erlernte nicht lebenslang vorzuhalten: 62 Prozent der heutigen amerikanischen Erwachsenen, die von ihren Eltern wahrscheinlich meist nach dem Motto Schlaf-süß-aber-allein in den Schlaf gebracht wurden, geben gegenwärtig Schlafprobleme an.
Das geteilte Bett als gesundheitliches Risiko?
Schon im Mittelalter war das Ersticken der Säuglinge an der Seite ihrer Mutter bzw. ihrer Amme ein Thema. Das Phänomen des zu Tode Liegens war zu manchen Zeiten sogar so häufig, dass ein Holzgestell erfunden wurde, das Ammen unter Strafe der Exkommunikation um das schlafende Baby herum anbringen mussten! Allerdings hatte diese Maßnahme keinen Einfluss auf die Sterblichkeit. Heute gehen Historiker und Ethnologen davon aus, dass sich hinter der gerade im 18. Jahrhundert grassierenden Epidemie des Zu-Tode-Liegens letzten Endes Kindstötung bzw. nachträgliche Familienplanung verbarg. Der Erstickungstod, so der naheliegende Verdacht, war die Spitze eines Eisbergs aus unqualifizierter Fremdbetreuung in einer Zeit, in der Säuglinge massenhaft an Ammen abgegeben und damit letzten Endes aufgegeben wurden (eine hervorragen Zusammenfassung ist dem Buch Mutter Natur der bekannten Verhaltensforscherin Sarah Blaffer Hrdy zu entnehmen).
Wenn heute von den Risiken des gemeinsamen Schlafens von Erwachsenen und Säuglingen geredet wird, dann geht es nicht mehr um die Gefahr des Zu-Tode-Liegens, sondern um den Plötzlichen Kindstod auch SIDS (sudden infant death syndrome) genannt. Am SIDS sterben derzeit in Deutschland etwa zwei von 1000 Säuglingen, am häufigsten zwischen dem dritten und sechsten Lebensmonat. Die genaue Ursache ist bis heute unbekannt. Sicher ist, dass äußere Erstickung durch Erdrücken dabei keine Rolle spielt. Vielmehr wird angenommen, dass die jungen Säuglinge durch ungünstige Einflüsse in ihrer Schlafumgebung ihre Atmung nicht mehr ausreichend steuern können. Dafür spricht, dass der plötzliche Kindstod allein durch die heute übliche Lagerung auf dem Rücken oder auf der Seite in den meisten Ländern um mehr als 70 Prozent (in Skandinavien sogar um bis zu 90 Prozent) zurückging.
Bekannt ist auch, dass der Plötzliche Kindstod in den westlichen Industrieländern, wo Babys routinemäßig alleine schlafen, sehr viel häufiger ist als dort, wo Babys nachts bei ihren (stillenden) Müttern schlafen. Das könnte daran liegen, dass der gemeinsame Schlaf, wie wir gesehen haben, dem Kind bei der Regulierung seiner noch unreifen Atmung hilft, oder auch damit, dass stillende Mütter ihre bei ihnen schlafenden Säuglinge automatisch auf dem Rücken oder auf der Seite lagern. Bekannt ist zudem, dass Säuglinge, die in einem eigenen Zimmer schlafen, gegenüber Säuglingen, deren Bettchen im Zimmer der Eltern steht, ein erhöhtes Risiko für den Plötzlichen Kindstod haben.
Wie kommt es dann, dass das gemeinsame Schlafen von Mutter und Baby als Risiko für SIDS genannt wird? Ja, dass manche Kinderärzte und sogar die renommierte American Academy of Pediatrics sich sogar generell gegen ein Zusammenschlafen von Säuglingen und ihren Eltern aussprechen?
Auf die Umstände kommt es an
Unter bestimmten Umständen kann das gemeinsame Bett tatsächlich eine Gefahr für das Baby darstellen. Und diese Umstände sind in unserem Kulturkreis gar nicht so selten. So haben Säuglinge, die im Bett rauchender Mütter schlafen, im Vergleich zu allein schlafenden Kindern ein vielfach höheres SIDS-Risiko. Das gilt auch für Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft geraucht haben. Es wird geschätzt, dass von den jährlich etwa 300 SIDS-Fällen in Deutschland mindestens ein Drittel auf dieses Konto geht.
Auch Säuglinge, die bei durch Suchtmittel oder Alkohol beeinträchtigten Müttern schlafen, sind gefährdet wahrscheinlich deshalb, weil die weiter oben beschriebene schützende intuitive Kommunikation im Schlaf nicht greifen kann. Für den US-Bundesstaat Alaska etwa zeigte eine aufsehenerregende Studie, dass bei allen im gemeinsamen Bett aufgetretenen Kindstod-Fällen Suchtmittelmissbrauch im Spiel war! Weitere Risikofaktoren sind das Schlafen auf sehr weichen oder unebenen Unterlagen (etwa Sofa oder Wasserbett) sowie die Verwendung von Kissen, Fellen oder anderem weichen Bettzeug. Unter solchen Schlafbedingungen, so die Vermutung, könnte sich die Atemluft aufstauen und zu einem schleichenden Atemstillstand führen. Auch starkes Übergewicht der Mutter ist möglicherweise ungünstig.
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch ein weiterer Zusammenhang: Das Risiko für den Plötzlichen Kindstod ist auch dort höher, wo eine nichtstillende Mutter mit ihrem jungen Säugling schläft. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die schützende intuitive Kommunikation im Schlaf bei einer nicht stillenden Mutter weniger ausgeprägt ist. Dafür spricht der Befund, dass auch das Schlafen mit dem Vater oder Geschwisterkindern mit einem gesteigerten SIDS-Risiko für den Säugling einhergeht.
Schaut man diese Risikofaktoren an, so wundert nicht, dass SIDS sehr viel häufiger in sozial benachteiligten Schichten vorkommt. In einer neueren Studie etwa betraf SIDS zu drei Vierteln Säuglinge von Müttern in der untersten Einkommensgruppe, 85 Prozent dieser Mütter rauchten in der Schwangerschaft und nur 26 Prozent hatten überhaupt versucht, ihr Kind zu stillen.
Dieser soziale Einfluss macht die wissenschaftliche Erforschung des SIDS-Risikos sehr schwierig. Denn das gemeinsame Schlafen von Säuglingen und Müttern findet unter extrem unterschiedlichen Bedingungen statt: Während viele Mütter es zum leichteren Stillen nutzen und dem Kind dabei ein gesundes Schlafumfeld bieten können, nutzen andere Mütter die praktischen Vorteile des Nebeneinanderschlafens im Rahmen eines ungünstigen Lebensstils (Rauchen, Alkohol, Drogen), in einem riskanten Schlafumfeld (Sofa, Wasserbett) und vor allem: ohne ihr Kind zu stillen. Wegen dieser sehr unterschiedlichen Verhältnisse müssen Daten aus statistischen Untersuchungen sehr vorsichtig interpretiert werden.
Fazit: Ein sicherer Schlaf ist für Babys heute sowohl im eigenen Bett als auch im Elternbett möglich, wenn die Regeln für ein sicheres Schlafumfeld befolgt werden. Für das Schlafen mit der Mutter heißt das: Das Baby schläft bei einer gesunden (nicht durch Alkohol, Drogen oder Beruhigungsmittel beeinträchtigten), stillenden, nicht rauchenden Mutter. Es gibt keine einzige Untersuchung, die einen nachteiligen Effekt des gemeinsamen Schlafens nachgewiesen hätte, wenn Mutter und Kind in diesem vorgesehenen Schlafumfeld schlafen.
Dagegen scheint es möglicherweise ungünstig zu sein, wenn ein Baby allein in einem separaten Zimmer schläft jedenfalls haben solche Kinder statistisch ein erhöhtes Risiko für den Plötzlichen Kindstod.
Das Schlafen von Kleinkindern im Elternbett kann dagegen generell als sicher gelten in dieser Altersgruppe können Kinder auch problemlos bei Geschwistern schlafen, wie dies in vielen Kulturen völlig normal ist.
Schlafarrangements sind Kompromisse
Auch wenn es im Zeitalter sicherer und warmer Häuser keinen objektiven Grund mehr gibt, warum Mutter und Kind nachts zusammen schlafen sollten, so setzt dies die subjektiven Erwartungen der Kinder nicht unbedingt außer Kraft sie leben ja mit ihren Emotionen gewissermaßen noch in der Steinzeit. Für sie ist das Schlafen bei den Eltern der Normalzustand.
Auf welche Seite schlägt sich das evolutionäre Denken? Ist das gemeinsame Schlafen von Mutter und Säugling immer das Beste, weil das Kind dies erwartet? Auch hier läuft es auf das bereits Angesprochene hinaus: Eltern haben ihre eigenen Interessen, und deren Berücksichtigung ist nicht von vornherein schlecht, vielmehr ist auch dies Teil der evolutionären Tagesordnung. Eltern sollten also die zu erwartenden Belastungen und Belohnungen kennen und dann nach denjenigen Kompromissen suchen, die am besten zu ihrem Lebensumfeld, ihren Kräften und Lebensentwürfen passen.